99. Tour de France
3.497 Kilometer, 21 Etappen, 198 Fahrer – vor zehn Tagen startete die 99. Tour de France mit dem Prolog in Lüttich. Der heutige Dienstag ist der erste, wohl verdiente Ruhetag für das Fahrerfeld; Zeit für uns, einen Blick zurück nach vorn zu werfen, das bisher Geschehene zu beleuchten, die Besonderheiten noch einmal in Erinnerung zu holen und auch einen Ausblick zu geben, was uns in den kommenden Tagen erwartet!
Die 99. Tour de France – das populärste, wichtigste und ganz sicher auch härteste Radrennen der Welt – stand von Beginn an unter keinem guten Stern: Nicht nur, dass die Welt zum Start nach Kiew blickte, wo die Fußball-Europameisterschaft das Finale herbeisehnte, und die deutschen Radsportfans wegen des Boykotts der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender in die Röhre blickten; …auch zwei der Top-Favoriten verpassten den Start. Während der Spanier und ehemaliger Sieger der Tour Alberto Contador eine Dopingsperre absitzen muss, hat Mit-Favorit Andy Schleck, der wegen Contador nachträglich zum Sieger 2010 erklärt wurde, überraschend wegen einer Verletzung des Kreuzbeins absagen müssen. Erschwerend hinzu kommt zudem, dass die Tour in diesem Jahr für die Fahrer nicht das absolute Highlight darstellt: Direkt im Anschluss, Anfang August, stehen die Olympischen Spiele in London auf dem Plan – eine seltene Gelegenheit und ein Traum für jeden Sportler!
Nichtsdestotrotz ist das gelbe Trikot des Gesamtführenden ein sehr begehrtes Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt. Und kämpfen ist genau das richtige Stichwort: 3.497 Kilometer quer durch die Alpen, die Pyrenäen, drei Bergankünfte, mehr als 100 Kilometer Zeitfahren allein gegen die Uhr – keine Frage, eine Spazierfahrt in Richtung Olympia sieht gänzlich anders aus, schließlich entspricht die Strecke in etwa der Tour von Hamburg nach Kiew und zurück. Und dementsprechend ging es – vor allem auch aus deutscher Sicht – los:
Der Prolog in Lüttich war mit 6,4 Kilometern vergleichsweise kurz, doch für den deutschen Hoffnungsträger und Zeitfahr-Weltmeister Tony Martin aus Cottbus stellte er den Beginn einer wirklich unglücklichen Pechsträhne dar: Erst machte ihm ein technischer Defekt während des Prologs einen Strich durch die Rechnung im Hinblick auf das gelbe Trikot; einen Tag später stürzte Martin dann schwer und brach sich das Kahnbein der linken Hand. Der Enttäuschung folgte ein unglaubliches Kämpferherz, dank dem sich Tony Martin über sechs weitere Etappen quälte, um das erste Zeitfahren – seine Spezialdisziplin – doch noch zu erreichen. Gerade im Hinblick auf Olympia stellte dies einen moralisch wichtigen Erfolg dar. Doch das Schicksal hatte kein Erbarmen, zwar war er beim ersten Zeitfahren über 41,4 Kilometer von Arc et Senans nach Besancon unglaublich schnell, doch nach einer Reifenpanne nach fünf Kilometern waren die Siegchancen bereits begraben.
Ähnlich intensiv und schmerzhaft, doch zunächst einmal wesentlich erfolgreicher, machte es da ein anderer Deutscher: der Sprinter André Greipel vom Team Lotto-Belisol. Auf der vierten Etappe von Abbeville nach Rouen siegte der 29-Jährige im Massensprint. Er profitierte allerdings davon, dass nur wenige Kilometer vor dem Ziel der Top-Favorit auf den Sprintsieg Marc Cavendish in einer Massenkollision stürzte. Angespornt von diesem Triumph setzte Greipel am Tag darauf noch einen drauf und gewann nach der vierten auch die fünfte Etappe. Diesmal konnte den Mann aus Rostock nichts aufhalten, auch Cavendish wurde im direkten Duell geschlagen. Um ein Haar hätte es sogar für einen Etappenhattrick gereicht: Auf dem sechsten Teilabschnitt der Tour stürzte Greipel zweimal schwer und hatte anschließend schon jegliche Hoffnung verloren. Doch dann erhielt er eine ordentliche Standpauke seiner Teamkollegen, entschied sich um, kämpfte und musste sich schlussendlich nur dem jungen Shootingstar Sagan geschlagen geben.
Wer nun denkt, was haben unsere deutschen Jungs nur für ein unglaubliches Pech gehabt mit ihren Stürzen, der muss wissen: den anderen erging es kaum besser! Die Tour de France ist 2012 eine Tour der schweren Einzel- und auch Massenstürze. Noch nie gab es so viele Verletzte wie in diesem Jahr. Unglaublich, aber wahr: Schon jetzt – nach gerade einer Woche bzw. neun Renntagen – sind 20 Fahrer ausgeschieden und zum Aufgeben gezwungen worden. Das sind sogar noch mehr, als bei der Skandal-Tour 1998, als unter anderem die komplette Festina-Mannschaft wegen Dopings zurückgezogen werden musste.
14 Jahre später zeigt sich die Tour von ihrer gefährlichen Seite: Vom Milzriss bis zum Hüftbruch, kaum ein Körperteil, das sich noch keiner der Fahrer im Feld verletzt hat – das Peloton gleicht einem Lazarett, die Hälfte ist großzügig bandagiert, die andere fährt unter Schmerzen oder gar mit vollständigen Knochenbrüchen weiter. Tony Martin brach sich das Kahnbein, André Greipel kugelte sich die Schulter aus und wieder ein, den Spanier Sanchez erwischte es so schlimm, dass er zunächst trotz Mittelhandbruch weiterfahren konnte, wenig später aber – nach einem weiteren schweren Sturz – als inzwischen 19. Fahrer die Tour de France verlassen musste. Alle drei hat es vermeintlich glimpflich erwischt, denn welche Kleinigkeiten letztlich fatale Kettenreaktionen auslösen können, zeigte ein Horror-Sturz auf der Etappe 6 nach Metz:
Alessandro Petacchi, der Sprinter vom Team Lampre, wollte seinem Helfer Davide Vigano im Grunde nur ein Paar Überschuhe geben. Vigano nahm eine Hand vom Lenker, griff nach den Schuhen und verstaute diese in der Rückentasche seines Trikots – bei etwas mehr als 70 Kilometern pro Stunde auf einer abschüssigen, recht schmalen Straße, 25 Kilometer vor dem Ziel. Und genau hier lag das Problem, denn so kurz vor dem Ziel pusht jeder der 22 Teamchefs seine Fahrer per Funk nach vorn. Und dementsprechend quetschen sich dann 190 Jungs auf eine sieben Meter breite Straße. Vigano verlor den Halt und kam zu Fall. Eine Kettenreaktion setzte ein und führte zu einem Massensturz, der, so der kanadische Giro-Sieger Ryder Hesjedahl, „zu den schlimmsten gehört, die ich jemals gesehen habe“. Für zwölf Fahrer bedeutete dies das Ende der Tour. Dem Niederländer Woet Poels droht sogar die Entfernung einer Niere, er liegt immer noch auf der Intensivstation.
Doch es gibt auch positive, beeindruckende Schlagzeilen der diesjährigen Tour – zum Beispiel die britische Sky-Mannschaft, die in unglaublicher Art und Weise das Peloton bisher dominiert. Klar, es gibt immer wieder Dominanz und Profis, die sich deutlich stärker zeigen, als der Rest des Fahrerfeldes; doch was das Team um den Favoriten Bradley Wiggins, den Super-Sprinter Mark Cavendish, Joker und Etappensieger Christopher Froome sowie Edvald Boasson Hagen bisher leistet, sucht seinesgleichen und erinnert stark an die Dominanz vergangener Armstrong-Jahre.
Selbst die Konkurrenz und ärgsten Verfolger staunen: „Bradley hatte im Finale noch drei Mann bei sich, ich war isoliert – da wird es dann kompliziert“, sagte beispielsweise der Vorjahressieger Cadel Evans. Wiggins, der extra für die Tour und Olympia acht Kilo zusätzlich abgespeckt hat, stellte übrigens vor etwa einem Jahr den ehemaligen Schwimm- und Ruder-Coach Tim Kerrison, eine Koryphäe seines Faches, ein. Gemeinsam wurde der Trainingsplan des gesamten Teams überarbeitet. Das Ergebnis: Wiggins will beide Großereignisse hintereinander gewinnen. „Dieses gelbe Trikot war mein erstes Ziel“, sagte er nach der siebten Etappe und sprach von einem Kindheitstraum. Auch auf der achten und neunten Teilserie verteidigte er es mühelos und selbst die Konkurrenz ist sich spätestens jetzt im Klaren darüber, dass der Sieg der 99. Tour de France nur über Wiggins und das unglaubliche Sky-Team führt.
Am heutigen Dienstag also ist der erste Ruhetag. Zeit, um sich die Wunden zu lecken, sich zu erholen und neue Kraft zu tanken. Tony Martin und andere, die sich für Olympia etwas ausrechnen, werden mit dem Gedanken spielen auszusteigen, denn die Tour ist unberechenbarer geworden, gnadenloser und gefährlicher. In der zweiten Tourwoche warten dann am Mittwoch und Donnerstag zwei ganz schwere Bergetappen, die im Falle eines Falles auch schon für die Vorentscheidung sorgen könnten. Doch so verrückt, so überraschend das Gesicht der Tour in diesem Jahr zu sein scheint, ist sicher, dass nichts sicher ist. Hoffen wir nur, dass es sportlich so spannend bleibt und nur die Sturzserien sich in Luft auflösen.